TILO
»Reichst du mir bitte die Sonnencreme, Schätzchen?«
Schätzchen …
Tilo kann es nicht leiden, wenn seine Mutter ihn so nennt. Genervt kramt er in der riesigen Strandtasche mit den blauen Punkten herum, bis seine Finger schließlich auf die Plastikflasche mit dem antiallergenen Sonnenschutzmittel aus der Apotheke stoßen. Er reicht sie seiner Mutter, die am Fußende seiner Sonnenliege steht und an ihrem zur Strandtasche passenden Bikini herumzupft.
»Danke dir«, sagt sie und beginnt damit, kleine weiße Cremeflecken auf ihre Beine zu tupfen.
Tilos Vater Gerd ist zur Poolbar gegangen, um für sich und seine Frau Kaffee zu holen. Tilo hätte Lust auf einen Energydrink, doch seine Mutter sieht es nicht gern, wenn er das Zeug schon vormittags in sich hineinschüttet. Vermutlich wird er also ein Mineralwasser bekommen. Seine Mutter sieht eine Menge Dinge nicht gern. Zum Beispiel mag sie es nicht, wenn er auf sein Handy starrt, während sie mit ihm redet. Oder wenn er die Spaghetti beim Abendessen in kleine Stücke schneidet, anstatt sie mit der Gabel aufzudrehen. Wenn es nach ihr ginge, dann trüge Tilo beigefarbene Wildlederschuhe statt seiner geliebten Nikes und würde den ganzen Tag über in Ratgebern lesen, so wie sie und sein Vater es ständig tun. Daheim in Deutschland hat Bianca Paumann für alles einen passenden Ratgeber in ihrem Regal. Wie man gesünder isst, wie man sich seinen Tag besser einteilt, wie man fit bleibt, ohne ins Sportstudio gehen zu müssen: Die dünnen Büchlein haben auf alles eine Antwort. Tilo selbst liest hingegen nur selten. Er findet das anstrengend. Er schaut lieber Serien auf seinem Notebook oder surft im Netz. Hin und wieder zockt er auch mal ein bisschen, doch er ist keiner dieser fanatischen WoW-Nerds. Dazu mangelt es ihm an Ausdauer. Er fährt gern Longboard, aber das hat er zu Hause lassen müssen. Hier gibt es ohnehin keine guten Strecken. Nichts als Wanderwege, Urwald und Sand.
»Bitte, mein Junge«, sagt sein Vater, der eben von der Poolbar zurückkehrt, und reicht ihm einen durchsichtigen Kunststoffbecher, auf dem das Hotellogo prangt. Tilo nippt an dem Getränk. Wasser. Wie erwartet. »Danke«, entgegnet er knapp, während Gerd Paumann die nun freie Hand benutzt, um seiner Frau eine der übereinandergestapelten Kaffeetassen zu reichen.
Zwar ist Tilo zuvor noch nie in einem Fünfsternehotel gewesen, doch wundert er sich schon ein wenig, dass es hier keinen Poolservice gibt. In den Hollywoodfilmen sieht man doch auch immer weiß gekleidete Kellner um das Schwimmbecken laufen.
Auf der anderen Seite des Pools machen sich inzwischen weitere Gäste breit. Tilos Mutter kräuselt wenig erfreut ihre perfekt geschminkten Lippen. Sie benutzt einen dieser Lippenstifte, der selbst im Wasser nicht abgeht. Ein Ratgeber hat sie darauf gebracht. Tilo erinnert sich, dass sie und Papa bereits am Vorabend kein gutes Haar an der amerikanischen Familie gelassen haben, die soeben ihre bunten Handtücher auf ihren Sonnenliegen ausbreitet. Tilo versteht gar nicht, warum. Der bullige Ami ist doch lustig. Mit seinem schütteren Haar und der lauten Lache erinnert er ihn an einen seiner Lieblingsschauspieler. Er findet es cool, dass die Familie nicht die cremefarbenen Strandtücher des Hotels in Anspruch nimmt. Man kann die Monstertrucks auf Frottee sogar von der anderen Seite des Pools aus erkennen. Und außerdem ist da ja noch die Tochter.
Beim Abendessen am Vortag hat Tilo unauffällig die Gespräche am Tisch der Familie belauscht und so erfahren, dass sie Caroline heißt. Ein hübscher Name, wie er findet. Sie hat ein hauchdünnes Trägertop getragen und alles in allem ziemlich gelangweilt gewirkt. Auch das gefällt Tilo. Gerade schält sie sich aus einem verboten kurzen geblümten Kleidchen. Ein knallgelber Bikini kommt zum Vorschein. Als sie sich umdreht, bemerkt Tilo den pinkfarbenen Schriftzug auf dem Bikiniunterteil.
»Juicy« steht da.
Tilo bemüht sich, nicht zu aufdringlich hinüberzustarren, doch das ist gar nicht so einfach. Das Mädchen sieht atemberaubend aus. Er wird ein Foto machen und es seinen Freunden daheim schicken müssen. Sie werden es ihm sonst nicht glauben. Natürlich macht er sich keine Illusionen. Zu mehr als ein paar heimlichen Blicken und einem höflichen Hallo im Restaurant wird es nicht kommen. Mädchen wie Caroline interessieren sich nicht für ihn. Egal auf welchem Kontinent. Für Tilo ist es schon unter normalen Umständen eine Herausforderung, ein Mädchen anzugraben, und obwohl sein Englisch ganz passabel ist, stellt er sich eine Unterhaltung mit einer Amerikanerin schwierig vor. Besonders wenn man dabei nervös ist. Andererseits steht Caroline auf der Insel nur eine begrenzte Auswahl zur Verfügung. Bisher hat er keine anderen Leute in ihrem Alter gesehen. Eigentlich gibt es generell echt wenige Gäste hier. Der reinste Friedhof. Nur alte Menschen und Palmen. Vielleicht würde Caroline mit etwas Glück ja doch ein paar Worte mit ihm wechseln? Oder ihn gar bitten, ihr den Rücken einzucremen?
»Die kannst du wieder einpacken«, sagt seine Mutter wie aufs Stichwort und reichte Tilo die Sonnencreme. Augenblicklich tauschen vor seinem inneren Auge die schlanke Amerikanerin und Bianca Paumann die Plätze. Ein Schauder überkommt Tilo, während er sich bemüht, die beiden Bilder feinsäuberlich voneinander zu trennen. Er steckt die Creme zurück in die Tasche und tut eine Weile so, als würde er etwas auf seinem Smartphone lesen. Doch als die Stille des Vormittags von gegenüber durch ein Platschen gestört wird, richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf Caroline. Diese ist eben untergetaucht und stößt nun mit einer unnatürlich grazilen Bewegung zurück an die Wasseroberfläche. Die Überlaufgitter gurgeln leise, als sie zwei Bahnen im Kraulstil absolviert und dann mitten im Pool, auf dem Rücken liegend wie eine dieser bildhübschen Wasserleichen aus Horrorfilmen, dahintreibt.
»Willst du nicht auch mal rein?«, fragt sein Vater und schenkt ihm ein verstörend schiefes Grinsen.
Tilo schüttelt energisch den Kopf. »Äh, nein. Jetzt nicht. Später vielleicht.«
Gerd Paumann zuckt mit den Achseln und steckt die Nase wieder in sein Buch. Fachliteratur für höhere irgendwas. Wer liest denn bitte so etwas im Urlaub? Manchmal beschleicht Tilo das Gefühl, dass er möglicherweise adoptiert sein könnte. Anders kann er sich die gravierenden Unterschiede zwischen seiner eigenen Persönlichkeit und dem Verhalten seiner Erzeuger nicht erklären.
Caroline treibt derweil gemächlich auf seine Seite des Pools zu. Tilo malt sich einige Szenarien aus, verwirft jedoch jede Aktion wieder. Wie sollte das auch gehen? Was tut oder sagt man zu so einer Bombe? Hey, Baby? Dein Oberteil ist voll durchsichtig? Wohl eher nicht. Ganz abgesehen davon, dass Tilo jedwede Coolness für eine solche Bemerkung abgeht, würde ihr Dad ihn wahrscheinlich an Ort und Stelle im Infinity-Paradies ertränken. Und sein Vater wiederum würde um eine gütliche Einigung bitten, anstatt ihn zu retten. Nein. Für Tilo gibt es kaum eine Chance in dieser Angelegenheit. Caroline ist außerhalb seiner Reichweite. Punkt. Aus. Ende.
»Also, das Ding war aber nicht billig«, hört er seinen Vater nun sagen. Anscheinend hat etwas dessen Aufmerksamkeit erregt und von dem Buch abgelenkt. Tilo folgt seinem Blick und entdeckt den Typen, den er schon am Tag zuvor im Restaurant gesehen hat. Er ist für sich geblieben und schien damit auch ganz zufrieden, was Tilo seltsam vorkam. Wer reist schon ganz allein auf eine karibische Insel? Das ist doch wohl eher etwas für Familien, Pärchen und Rentner. Gerade stützt der Mann sich auf einem Knie ab und richtet eine gigantische Spiegelreflexkamera auf den Pool.
»War der nicht gestern bei der Begrüßung auch dabei?«, überlegt Gerd Paumann laut. »Scheint aber kein Urlauber zu sein.«
»Ich hoffe, Sie hatten einen gelungenen Start in den Tag?«, erklingt plötzlich eine Stimme neben Tilo. Der Hotelmanager, der sie am Vortag eingecheckt hat. Trotz der karibischen Temperaturen trägt er Anzug und Krawatte. Tilos Eltern begrüßen den Mann mit dem festgewachsenen Lächeln und versichern ihm, dass alles ganz wundervoll sei. Tilo verdreht die Augen und wendet sich wieder Caroline zu. Seine Eltern sind solche Heuchler! Heute früh im Zimmer hat es kein anderes Thema gegeben als zu kaltes Wasser in der Dusche, Gemecker über das Essen beim Dinner und Nörgeleien über falsch verputzte Fugen und fehlende Handtücher. Er ist irgendwann so genervt gewesen, dass er sich bei lauter Musik unter seinen Kopfhörern versteckt hat. Und nun strahlen die beiden den Hotelmann an, als wäre nie etwas gewesen. Bloß keinen Ärger verursachen, das ist Papas Devise.
»Sagen Sie«, setzt sein Vater nun an, »wer ist denn dieser Herr dort? Das scheint ja eine ziemlich professionelle Ausrüstung zu sein. Gehört er zum Hotel?«
Belchild nickt verständig und erklärt: »Mr Hall ist Fotograf für ein Magazin. Aber keine Sorge. Ihre Privatsphäre wird gewahrt. Er wird lediglich einige Bilder von der Anlage schießen.«
Damit verfliegt Tilos Hoffnung darauf, dem Einzelgänger ein Foto von Caroline aus den Rippen leiern zu können. Schade.
»Hey, Belchild!«, hallt es über den Pool hinweg. In kumpelhaftem Befehlston signalisiert Carolines Dad, dass er ein Anliegen hat. Unterstützend lässt er seinen Zeigefinger kreisen, um den Hotelangestellten dazu zu bringen, das Becken zu umrunden und zu ihm zu kommen.
Bianca Paumann rümpft ihre kleine Nase und stöhnt mausähnlich auf.
»Wenn Sie mich entschuldigen«, meint der Hotelmanager, und tatsächlich kann Tilo sehen, dass ihm sein perfektes Lächeln im Weggehen kurz entgleitet. Offenbar teilt er die Meinung seiner Mutter über die amerikanischen Gäste.
Der Fototyp nickt Belchild zu, als dieser ihn passiert, und schlendert dann mit seiner Kamera in Richtung Haupthaus.
»Was meinst du, Liebes? Gehen wir ins Wasser? Eine Abkühlung täte mir gerade ganz gut.« Tilos Vater erhebt sich von seiner Liege und nimmt noch einen Schluck Kaffee, bevor er seiner Frau die Hand entgegenstreckt.
»Gute Idee. Und du willst sicher nicht mit, Tilo?«, erwidert diese.
Mit seinen Eltern zusammen im Pool planschen? Vor der blonden Nixe? Nope.
»Nee. Ich bleib hier. Zieht ihr nur euer Ding durch.«
Tilos Vater lacht kopfschüttelnd. »Na, dann komm, Bianca. Ziehen wir unser ›Ding‹ durch«, witzelt er im Weggehen. Tilos Mutter kichert leise, als wäre ihr Mann mit einem grandiosen Humor gesegnet. Tilo stöhnt verhalten auf, während seine Eltern über die Steinfliesen zu der flachen Treppe, die in das Schwimmbecken führt, wandern. Gegenüber gestikuliert Joseph Barber wild herum, während er auf den Hotelmanager einredet. Vielleicht gefallen ihm die Fugen ja auch nicht?
Tilo zieht sein Shirt aus und greift zu den Kopfhörern. Er wird einfach ein bisschen in der Sonne chillen und sich vorstellen, wie das amerikanische Mädchen sich nass an ihn schmiegt. Es gibt schlechtere Möglichkeiten, seinen Urlaub zu verbringen. Besser als nichts. Das neue Album von Royal Blood sorgt dafür, dass Jo Barbers dröhnende Stimme verstummt, und die Musik untermalt Tilos Gedanken angemessen. Die Sonne scheint nun immer intensiver, doch ihm gefällt die Hitze auf der Haut. Viel besser als daheim in Norddeutschland, wo Sommer bedeutet, dass man von einer dicken auf eine etwas dünnere Jacke umsteigen kann.
Der Player in seinem Smartphone ist gerade auf das vierte Lied gesprungen, als er durch die geschlossenen Lider einen Schatten wahrnimmt. Blinzelnd öffnet er die Augen und sieht erstaunt Carolines schlanke Statur über sich aufragen. Sie steht da und tippt sich mit dem Zeigefinger gegen ein Ohr. Ein dünnes Haargummi sitzt stramm um ihr Handgelenk. Es besteht aus einem mit silbernen Glitterfäden durchsetzten Material und funkelt unregelmäßig im Schein der Sonne. Eilig reißt er die Kopfhörer herunter und setzt sich auf. Mist! Das hätte er auch cooler und wesentlich gleichgültiger lösen können!
»Ein guter Song?«, fragt sie ihn auf Englisch.
Verzweifelt sucht Tilo nach einer Antwort und bringt schließlich ein erbärmliches Yes über die Lippen. Er verspürt den Drang, wegzulaufen.
»Ich höre ja lieber Hörbücher«, meint sie schulterzuckend und lässt sich mit einer geschmeidigen Bewegung neben ihm nieder.
Tilo versucht nicht zu sehr darüber nachzudenken, dass ihr von dem gelben Bikinihöschen nur leidlich bedeckter »Juicy«-Hintern gerade sein Strandtuch berührt. Er wird es den Rest des Urlaubs als Kopfkissenbezug nutzen, das steht fest!
»Ich bin mit meinen Eltern hier«, fährt sie fort, nachdem er nichts weiter erwidert hat. »Du anscheinend auch?« Sie deutet auf Gerd und Bianca, die sich im Wasser peinlicherweise gerade einen ungeschickt wirkenden Kuss geben.
»Ja«, entgegnet Tilo angespannt. »Ließ sich nicht vermeiden.«
Zu seinem Erstaunen kichert Caroline leise. Findet sie ihn etwa witzig?
»Mein Dad dreht voll am Rad. Er hat schon seit wir hier sind ständig was zu meckern. Mir tut Mr Belchild echt leid. Dad nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn ihm etwas nicht passt.« Sie legt den Kopf leicht schief und fügt hinzu: »Na ja, eigentlich nimmt er nie ein Blatt vor den Mund.«
Tilo schielt über das Wasser hinweg zu Carolines Eltern. Jo Barber trägt in diesem Moment eine dicke Schicht Sonnenschutz auf. Er sieht aus wie der Marshmallow Man.
»Und deine Mom?«, erkundigt er sich. »Wie ist die so?«
Caroline setzt eine gleichgültige Miene auf. »Ziemlich langweilig, würde ich sagen. Sie steht nicht so auf Konfrontationen.«
Tilo nickt verständig. »So wie mein Dad.«
Ihm fällt auf, dass ihr Englisch anders ist als das der Schauspieler und Sänger, die er aus dem Fernsehen kennt. Irgendwie runder, mit einer interessanten Betonung.
»Tja. Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen«, konstatiert Caroline und wirft eine nasse Haarsträhne über die Schulter. Kleine Wasserperlen heften an ihrem Dekolleté. Tilo vermutet, dass sie Sonnenöl als Bräunungsbeschleuniger verwendet. Einige Mädchen aus seiner Klasse tun dies ebenfalls. Abgesehen von der knackigen Bräune, die sie damit erzielen, sehen sie im Schwimmbad allesamt aus wie Pornostars. Auch Carolines ebenmäßige Haut glänzt, als hätte man sie gerade eingelegt. Tilos Körper reagiert augenblicklich und er versucht, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Er stellt sich nackte Großmütter vor und blickt eilig zu seinen noch immer herumtollenden Eltern im Pool hinüber. Nur mit seiner Badehose bekleidet wird es sonst schwer werden, das Resultat von Carolines Anblick zu verstecken.
»Habt ihr irgendwelche Ausflüge geplant?«
Er muss sich zusammenreißen! Dieses Mädchen scheint ernsthaft Konversation mit ihm betreiben zu wollen. Das ist seine Chance! Vielleicht die einzige Gelegenheit, bei ihr zu punkten. Er darf das jetzt nicht versauen! Mühsam kramt er in seinem Hirn nach den englischen Worten und erwidert: »Mein Vater wollte mal schnorcheln gehen. Ich soll mitkommen.«
»Magst du Schnorcheln nicht?«, fragt Caroline, offenbar ernsthaft interessiert.
Tilo zuckt mit den Schultern. »Hab ich noch nie gemacht, und du?«
»Schon oft«, entgegnet sie leichthin. »Ist ganz cool.« Dann erhellt ihre Miene sich plötzlich. »Hey!«, sagt sie und stupst Tilo leicht in die Seite. »Ich könnte es dir beibringen!«
Offenbar macht sie sich keine Vorstellung davon, wie sehr ihn die kleine Berührung aus der Fassung bringt. Sie sieht ihn bloß erwartungsvoll an.
»Könnten wir so machen«, presst Tilo hervor und findet, dass er einem Mädchen gegenüber noch nie so lässig reagiert hat. Doch noch ist diese Unterhaltung nicht vorüber. Es können noch einige Fettnäpfchen auf ihn warten. Nur nicht übermütig werden …
Doch in diesem Moment hallt Jo Barbers Ruf zu ihnen herüber. »Car! Besorg deinem alten Herrn ein Helles, ja?«
Caroline verdreht die Augen. »Gott, wie peinlich. Tut mir echt leid. Ich muss los. Aber wir sehen uns später, okay? Dann planen wir unseren Ausflug.« Sie zwinkert ihm im Aufstehen zu, sodass Tilo keine Verabschiedung zustande bringt, sondern schlicht die Hand zum Gruß hebt.
Er sieht ihr nach, wie sie zur Bar schlendert, und hat das Gefühl, sich in einem Traum zu befinden. Vielleicht kann es hier ja doch noch ganz nett werden? Allein der Gedanke daran, Zeit mit dem blonden Mädchen zu verbringen, stimmt ihn ekstatisch. Ja, es könnte ein richtig cooler Urlaub werden. Wer hätte das gedacht?
Gebrüll gellt über den Flur. Wütende Zurufe aus einem der Zimmer, die sich rechts entlang des Ganges befinden. Dann ein lautes Türknallen. Drinnen wird weiter geflucht, doch es ist nicht mehr zu verstehen, woraus der Inhalt der andauernden Schimpftirade besteht. Ich wünschte, der Mann hinter der Tür würde endlich still sein, damit er und ich ganz für uns sind auf dem Gang. Ohne Ablenkung oder sonst eine Hintergrundkulisse.
Ich beobachte, wie er mit müden Schritten an den restlichen Zimmern vorbeischlurft. Er will zum Fahrstuhl. Gut, denn das ist eine Sackgasse.
Meine Finger schließen sich fester um den Griff des Messers. Ich spüre, wie sie zu kribbeln beginnen. Schwer zu sagen, ob nun wegen des eisernen Griffs oder aufgrund der lang ersehnten Mischung aus Aufregung und Vorfreude, die sich meiner mit jeder voranschreitenden Sekunde mehr und mehr bemächtigt. Nun endlich ist es so weit. Ich will den Moment hinauszögern, immerhin war es nicht einfach, bis hierher zu kommen. Ich will es auskosten, genießen. Aber viel Zeit bleibt nicht. Und wer weiß schon, ob sich weitere Gelegenheiten bieten werden? Jetzt und hier wird es geschehen. Das steht fest.
Ich trete vor. Verlasse den Schutz des Türrahmens, in dem ich mich die letzten Minuten verborgen gehalten habe. Er ist ewig in dem Zimmer gewesen. Doch nun ist er allein.
Ich mache einen Schritt. Und dann noch einen.
Auf dem weinroten Teppichboden verursachen meine Schuhe kein Geräusch. Ich muss an Naturdokumentarfilme denken. An einen Löwen, der sich an seine Beute heranpirscht. Ich bin gerne der Löwe. Und er gibt mit seinen hängenden Schultern und dem gesenkten Blick eine ganz passable Beute ab. Und genau wie ein Löwe habe ich ihn nicht erst eben entdeckt. Ich folge ihm schon eine ganze Weile. Viel zu lange.
Er bleibt stehen und ich tue es ebenfalls.
Seine Hand tastet nach dem Knopf neben dem Aufzug. Er betätigt ihn zweimal, als wäre er in Eile. Derweil setze ich mich wieder in Bewegung. Immer noch leise, dafür etwas schneller als zuvor. Ich muss ihn erreichen, bevor die Fahrstuhltüren sich öffnen und er in die Kabine tritt, denn dann wird er sich umdrehen, und noch mehr Gebrüll kann ich nicht gebrauchen.
Noch einmal verstärke ich den Griff um das Messer. Gleich habe ich ihn erreicht. Gleich …
Ein dezentes »Pling« ertönt. Die Türen des Aufzugs gleiten auseinander.
Ich mache noch einen großen Schritt, dann bin ich direkt hinter ihm.
Er hat den Blick noch immer auf den Boden gerichtet. Ganz in Gedanken macht er Anstalten, in die Kabine zu treten, also greife ich mit der Linken über seine Schulter und presse ihm meine Hand auf den Mund. Gleichzeitig ziehe ich seinen Kopf zurück, um mit der Rechten, in der sich noch immer das Messer befindet, ungehindert an seinen Hals zu gelangen. Doch da lenkt mich etwas ab. Eine Bewegung, direkt vor uns.
Ein Spiegel.
Im Fahrstuhl sind alle Wände verspiegelt. Die Bewegung, die mich irritiert hat, habe ich selbst verursacht. Ich starre über seine Schulter hinweg auf die beiden Personen, die uns aus dem Spiegel von der Rückwand der Kabine aus entgegenblicken.
Ich: fasziniert, beinahe schon amüsiert. Er: stocksteif mit weit aufgerissenen Augen.
Was für ein unerwarteter Bonus. Nun kann er mich sehen, während ich es tue.
Doch dann scheint bei ihm der erste Schock abzuklingen. Unter meinem Griff beginnt er sich zu winden und zappelt herum. Ich runzele die Stirn und werfe ihm im Spiegel einen mahnenden Blick zu. Wozu soll dieser halbherzige Versuch dienen? Er hat längst verloren, weiß er das denn nicht?
Ich hebe den rechten Arm und setze das Messer an. Augenblicklich hört er auf, sich zu wehren. Zwischen meinen Fingern spüre ich heftige Atemstöße und unter meinem Arm, der seinen Brustkorb berührt, schlägt sein Herz so schnell wie ein Trommelwirbel. Ein Countdown.
Die Schneide senkt sich langsam in die dünne Haut an seiner Kehle. Ich blicke in den Spiegel und sehe ihm direkt in die Augen.
Jetzt weiß er es. Jetzt versteht er es. Es endet hier und heute. Für uns beide.
Er beginnt lautlos zu weinen. Wie ein kleines Mädchen. Tränen rinnen über seine Wangen auf meine Hand. Sie sind warm, jedoch nicht so warm wie das Blut, das nun aus der kleinen Öffnung an seinem Hals quillt. Ich übe mehr Druck aus und lasse die Klinge langsam von links nach rechts über die Haut gleiten. Zur Mitte hin wird der Schnitt immer tiefer. Er ist ganz gerade, was ich fast schon stolz registriere, während ich weiter in den Spiegel blicke. Dort gibt es so viel zu sehen. Mich, ihn, das Messer. Seine Hände, eben noch an meinem Arm nestelnd, nun schwebend, dann sinkend, schließlich herabhängend.
Das Blut fließt jetzt in Strömen. Ich kann es sogar riechen. Metallisch. Wie Wasser in einem rostigen Eimer. Das Gewicht seines Körpers verlagert sich gegen meine Brust. Seine Augen sind noch immer offen, aber nicht mehr so entgeistert aufgerissen wie noch vor einigen Sekunden. Er scheint mich gar nicht mehr wahrzunehmen, während er, genau wie ich, weiter in den Spiegel vor uns blickt. Ich spüre, dass wir den Zenit des Finales überschritten haben, und ziehe in einer fließenden Bewegung beide Hände zurück. Sofort kippt sein Körper nach vorn und kommt dann mit einem dumpfen Geräusch auf dem Teppichboden des Lifts auf.
Einige Sekunden noch sehe ich zu ihm herunter, während mein Puls sich zufrieden verlangsamt. Dann gibt es nur noch zwei Dinge zu erledigen, bevor ich diesen Ort schleunigst verlassen werde.
Die Schlüssel sind schnell entdeckt. Ich stecke sie ein. Dann richte ich mich wieder auf und erledige eilig, aber immer noch hoch konzentriert, worauf ich mich am meisten gefreut habe.
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